Guten-Appetit-Geschichten.

Bild von Ryan McGuire

Es ist kurz nach Acht Uhr am Abend und ich erzähle Geschichten. Sie handeln nicht von puppengesichtigen Prinzessinnen mit langem güldenen Haar und funkelnden Kristallschuhen, auch wenn es scheint, als würden sich auf der heutigen Veranstaltung ein paar die Ehre geben. Statt in Pfefferkuchenhäuschen und rot bepinselten Rosengärten spielen besagte Geschichten auf der Alm und in feuchten Kellern. Der gehfaule Prinz darf auf seinem Schimmel sitzen bleiben und kann das Schwert stecken lassen. Es gilt keinen Drachen zu bekämpfen – lassen Sie sich von der schnaubenden Bardame nicht täuschen – und keine Schlacht zu schlagen, von der am Buffet einmal abgesehen. Die Helden der Geschichte sind nicht blaublütig, in ihren Adern fließt Rohmilch. Ihr ahnt es, ich erzähle über Käse. Ein daumenlutschendes Kind kann man damit freilich nicht den rotäugigen Monstern unter seinem Bett zum Trotz in den Dämmerschlaf quasseln. Bei den anwesenden Damen und Herren, die selig an ihren Weingläsern nuckeln, klappt das ganz gut. Bis ein Zuhörer am Buffet aus der Reihe tanzt. „Und?“ Was und? Wenn sie nicht gestorben sind, leben sie noch heute. Und wenn der 16 Monate gereifte Bergkäse, der im Sommer von einer Sennerin auf einer Alpe im Bregenzerwald aus Kuhrohmilch hergestellt worden ist, nicht von dem vorwitzigen Herren verspeist wird, dann von der mahnend mit dem Fuß tippenden Dame hinter ihm. Ich hätte mir natürlich schnell etwas aus den Fingern saugen und ihm ein Märchen auftischen können. Von den Kühen Ella, Emma und Elisa, die unfreiwillig Zeugen der Romanze zwischen der jungen Sennerin und dem verwitweten Kuhbauern werden. Bestimmt hätte er es genau wie die zehn vorangegangenen Kostproben geschluckt. Lassen wir uns inzwischen lieber Heimatfilme nacherzählen, statt unseren Geschmacksnerven zu vertrauen? Offenbar ja, sonst müssten die Lebensmittel im Kühlregal nicht mit Bezeichnungen wie „Heumlich“ oder „Bergbauernbutter“ um die Gunst des Konsumenten buhlen. Geschmacksache war gestern, heute punktet die bessere Geschichte. Gibt es auf dem Markt schon so viel als Lebensmittel getarnten Müll, dass das, was irgendwann einmal ganz selbstverständlich war, heute als Zusatznutzen ausgelobt werden muss? Wo ist er denn, der liebe Hausverstand, wenn der verstörte Verbraucher seine Milch nach den Blümchen, die auf der Verpackung sprießen, auswählt? Wahrscheinlich auf irgendeinem Bauernhof beim Dreh des nächsten Werbespots. Natürlich sollte man wissen, was man isst. Im besten Fall auch den Menschen dahinter kennen. Aber wer ohne Märchen einschlafen kann, sollte auch fähig sein, sein Käsebrot ohne sie zu genießen.