Ich trinke, also bin ich – online.

© Ryan McGuire

Stell dir vor, du bist sturzbetrunken und eine Million Fremde beobachten dich ganz genau. Dann hast du’s echt vermasselt. Oder als Drunk Vlogger echt geschafft! Nur was eigentlich?

Ein Glück, wurde Mark Zuckerberg nicht ein Jahrzehnt früher geboren. Sollten irgendwelche Fotos aus meiner Teenagerzeit von mir in betrunkenem Zustand existieren, dann maximal auf einer Diskette (die quadratischen Monster-Datenträger und Vorbilder für das „Speichern“-Symbol), die irgendwo vor sich hinstaubt oder inzwischen als Retro-Glasuntersetzer wiedergeboren wurde. Nicht. im. INTERNET. Gut so. Oder doch weit gefehlt und viel mehr eine vertane Chance? Offenbar ist solches Bild-, oder noch besser Video-Material nämlich der perfekte Köder fürs Angeln nach Komplimenten. Model, Mama und John Legend-Gattin Chrissy Teigen macht’s vor. Ein paar Sekunden in der Grammy-Robe am Boden liegend auf Snapchat irgendwas von Ramen lallen und die Fans und Medien überschlagen sich – wie „niedlich“, so „süß“, „höchst amüsant“! Die Huffington Post zeigt sich gar positiv überrascht: „We didn’t think it was possible for Chrissy Teigen to be better at social media than she already is. But on Sunday night, she one-upped herself.“ Cheers, girl!

Während die Lehrer darüber diskutieren, ob sie für die Sozialen Medien einen Platz am Lehrplan reservieren sollen und Eltern ihren führerscheinlosen Teenagern in „Don’t drink and drive“-Manier inzwischen „Don’t drink and go live“ eintrichtern, scheint Betrunkenheit auf YouTube besser zu ziehen als manche Food-Hauls, Make-up Tutorials oder Fashion Unboxings. Isso. Isabernichtganzneu. Trendsetterin Hannah Hart lädt bereits seit 2011 regelmäßig zu einem Stelldichein, pardon, Schenkdirein in ihre Drunk Kitchen, wo sie zuerst massenhaft Alkohol ext und anschließend benebelt Geburtstagskuchen, Donuts und Fritten zubereitet. Ja, haben wir alle schon mal gemacht, aber hat es uns auch über zwei Millionen YouTube-Abonnenten und einen Eintrag auf Wikipedia eingebracht? Und damit nicht genug, demnächst wird Hannahs Show auch noch von The Food Network ausgestrahlt. Wäre doch gelacht, wenn sich aus den ganzen im Rausch verschickten SMS (für die nächste Generation: Whatsapp-Messages) an diverse Exen, Schwärme und Co auch noch ein Buch (für die nächste Generation: eBook) basteln ließe.

Wenn man im Vollrausch kochen kann, dann bestimmt auch besoffen Dating-Ratschläge geben, hat sich Whitney Adams gedacht. Die Somméliere aus Los Angeles kippt in ihren Drunk Dating Advice-Videos vor laufender Kamera einen Rotwein-Shot nach dem anderen oder vergeht sich schon mal an einer ganzen Flasche Rhone Rosé während sie Fragen über nackte Selfies und den idealen Zeitpunkt, an dem man den vergessenen Schmuck bei seinem One-Night-Stand abholen sollte, beantwortet. Auch die 24-jährige Hannah Witton fühlt sich zur Sauf-Seelsorgerin berufen und holt sich trinkfeste Unterstützung von wechselnden Freundinnen und Freunden. Ihre Regeln: „Nr. 1: Sei betrunken! (If you don’t drink, be in the spirit of drunk) Nr. 2: Hab einen Freund bzw. eine Freundin bei dir. Nr. 3: Hör nicht auf uns.“ Ob sich die größtenteils minderjährigen Zuschauer, die Youtube konsumieren wie unsereins früher MTV, wohl an Whitneys Rat „Wenn ihr unter 18 seid, schaut bitte nicht mehr zu, weil ich über allerhand Dinge reden werde, die ihr nicht hören solltet“, halten? Klar, Filme ab 16 wollte ich damals mit 13 auch auf gar keinen Fall sehen und Clubs ab 18 haben mich frühestens mit 18,5 interessiert. Während du vielleicht denkst, „wie niedlich!“, wenn sich Hannah mit Augenlidern auf Halbmast Palatschinkenteig ins Gesicht klatscht, oder Whitneys unbeabsichtigte Rosé-Nasendusche „höchst amüsant!“ findest, überlegen sich reihenweise kleiner Mädchen, wie sie so sein können wie ihre Vlogger-Idole. Es war noch nie so erschreckend einfach.