Von Clean Eaters und Dirty Cheaters

Photo by Jasmine Waheed on Unsplash

„Ich bin noch lange nicht 100-prozentig clean, das muss auch gar nicht sein“, plaudert Achim Sam im Zuge der Online-Promotion seines Buches aus dem Nähkästchen. Mitleid erntet er damit wohl keines, viel eher Sympathiepunkte. Achim gehört nämlich nicht etwa zur nächsten Generation der Kinder vom Bahnhof Zoo, er ist der Erfinder der 24-Stunden-Diät und Autor von „Clean Your Life – In 6 Wochen zur Bestform“. Wenn er von „clean werden“ spricht, meint er den steinigen, von Wasserflaschen und Superfoods gepflasterten Weg vom Junkfood-Junkie zum Gesundheitsguru. Dieser hat sich über die letzten zwei Jahre geradezu zum Pilgerweg – auch #cleaneatingjourney – der Instagram-Gemeinde entwickelt, deren Anhänger mit stolzen 18 Millionen Einträgen unter dem Hashtag #cleaneating und ganzen 26 Millionen zu #eatclean Buße getan haben. Aber clean essen, will man das denn überhaupt?

Clean Eating klingt nach Dinner im Hause von Meister Proper, Sagrotan-Suppe und nach Anti-Mitesser-Pflastern für Äpfel, in jedem Fall äußerst unappetitlich. Und auch wenn die ungünstig gewählte Bezeichnung im Grunde bloß den Konsum von unverarbeiteten, natürlichen Lebensmitteln und den Verzicht auf Zusatzstoffe, Zucker und Aromen propagiert, vermittelt die Kategorisierung bestimmter Lebensmittel als „clean“ zugleich, dass die übrigen „dirty“ sein müssen. Und zwar nicht das gute Dirty wie in „Dirty Dancing“.

Gut gereifter Bergkäse – dirty! Mamas hausgemachter Apfelstrudel – dirty! Das Kalbsbutterschnitzel im Lieblingsrestaurant – Christina-Aguilera-dirrty!!!

Solcher und ähnlicher Unrat wird auf die sogenannten Cheat Days verschoben und damit auf dieselbe Stufe verbannt, auf der tiefgekühlte Pizzaburger und frittierte Marsriegel ihr ungesundes Dasein fristen. Kein Wunder, dass sich Nigella Lawson, die Queen des Comfort Food, in ihrem neuen Buch „Simply Nigella“ als Clean Eating-Atheistin geoutet und die Sauberesser-Bewegung gar als die Verkörperung all ihrer Ängste und willkommene Maskierung für Essstörungen bezeichnet. Nun ist eine bewusstere Ernährung sicher nicht der schlechteste Weg, um mit sich selbst ins Reine zu kommen, wenn da nicht die Sehnsucht wäre, auch das eigene Umfeld zu bekehren und – noch schlimmer – zu belehren.

„Food Shaming is the new Fat Shaming“ titelte Bloggerin Emily bereits 2012 auf xojane.com und spielte damit auf die verächtlichen Kommentare an, mit denen wir uns heute unabhängig von unserem Körperbau herumschlagen müssen, wenn wir inkognito mit einer höherkalorischen Speise gesichtet werden. Wer sich in der Pizzeria schon mal einen großen gemischten Salat bestellt hat, weil er einfach Lust drauf hatte, weiß allerdings, dass das Pendel immer in zwei Richtungen schwingt. Für die pizzahungrige Clique steht nämlich fest: der Grünzeug-Sympathisant ist der Cheater.
Ob nun Cleaneater, Dirty Cheater oder gar Cleancheater, bevor du ungefragt deinen Senf zum Essen von irgendjemandem abgibst, wasch dir den Mund besser mit Seife aus.

 

© Ursus Wehrli, kunstaufraeumen.ch
© Ursus Wehrli, kunstaufraeumen.ch

6 Comments

  • Danke, liebe Claudia! Schön zu hören, dass ich wohl nicht die einzige bin, die dem Clean Eating-Hype skeptisch gegenübersteht. Essen und essen lassen 😉 Alles Liebe, Sarah

  • Super Artikel! Clean eating ist in vielen Fällen nur ein social media Phänomen, das gar nichts mit dem entworfenen Konzept hat. Und mit dem Konzept kann ich mich auch nicht anfreunden. Bewusst essen ist ja gut, aber übertreiben und eine Religion daraus machen muss man nicht. Aber jedem das Seine…

  • Dankesehr! Genau meine Meinung. Der Hashtag #cleaneating ist für viele zum goldenen Sternchen geworden, das man sich selbst verleiht, wenn man es mal wieder geschafft hat, erhobenen Hauptes (und mit angehaltenem Atem) am Imbissstand vorbeizuhuschen, um daheim stolz einen Green Smoothie zu schlürfen 😉 Auch wenn ich persönlich nix vom „religiosieren“ von Ernährungsweisen halte, sind mir #plantbased und #realfood rein namentlich doch um einiges sympathischer als #cleaneating. Lieber Gruß, Sarah

  • das erinnert auch an mark twain

    ‚Part of the secret of success in life is to eat what you like and let the food fight it out inside.‘

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