Die italienische Variante von Dinner-Cancelling.

Bild: © Sarah Krobath
Bild: © Sarah Krobath

„Das glauben sie wirklich?“, fragt mich meine italienische Mitbewohnerin ungläubig und starrt mich dabei so entgeistert an, als wolle ich ihr weismachen, dass wir Österreicher bis ins Erwachsenenalter ans Christkind glauben. Über einem Teller ihrer handgemachten Kakao-Tagliatelle mit Porcini habe ich ihr erzählt, dass manche Österreicherin ihrer Figur zuliebe nicht nur das Betthupferl, sondern überhaupt gleich das ganze Abendessen ausfallen lässt. Mit leerem Magen schlafen gehen? Freiwillig? Damit kann die Fünfundzwanzigjährige, die mir gegenüber eifrig – ohne Löffel, versteht sich – Nudeln auf ihre Gabel zwirbelt, genauso wenig anfangen wie mit dem englischen Begriff dafür. Vierzehn Stunden, empfehlen linientreue Abendfaster, sollen zwischen der letzten Mahlzeit an einem und der ersten Nahrungsaufnahme am nächsten Tag liegen. Sagen wir es mal so: Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Italiener vierzehn Stunden ohne Unterbrechung am Esstisch verharrt, ist größer. Das Frühstück kann man den Ragazzi ruhig streichen, ohne dadurch eine Darbietung ihrer ebenso berüchtigten wie gemeingefährlichen Gestikulation und dem damit gepaarten lexikonreifen Schimpfwortschatz heraufzubeschwören. Dann gibt’s halt kein Guten-Morgen-Cornetto und der zügige Espresso al banco wird eben im Laufe des Vormittags all’ufficio gekippt. Die rituelle Verköstigung von la Famiglia am Abend, hingegen, ist wie der Papst: unantastbar. Der einzige, aber auch allereinzige Grund, für den der rechtessende Italiener das hochheilige Dinner auslässt, heißt: Aperitivo.

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Bild: © Sarah Krobath

Was als Aperitif, zu dem man sich ab 18 Uhr nach der Arbeit oder im Anschluss an die Uni bei der Bar seines Vertrauens zusammenfindet, beginnt, endet nicht selten mit Suppen-, pardon, Salsicciakoma, Olivenohnmacht oder Bewusstlosigkeit durch Bruschetta. Das Prozedere ist immer dasselbe: Du prügelst dich mit den anderen Gästen um einen der heiß begehrten und gleichermaßen umkämpften Tische und bestellst ein Glas Wein – im Piemont selbstverständlich roten – einen Aperol bzw. Campari Spritz oder die alkoholfreie Variante, einen Crodino. Ehe du dich versiehst, steht zusammen mit deinem Drink eine Selektion duftender Pizza und Foccaccia vor dir und befördert jeglichen eisernen Diätvorsatz prompt auf Messers Schneide. Willst du dazu noch Grissini, Oliven, Salumi, Bruschette und Pasta, musst du schon aufstehen und die drei Meter zum an der Bar aufgetürmten Buffet selbst zurück legen. Wer es mit seinem schwer beladenen Teller durch den Hindernisparcours aus mit Armen und Beinen in der Luft herumfuchtelnden Amici zurück an den Tisch geschafft hat, steht die nächsten drei, vier Stunden nicht wieder auf – es sei denn für einen Nachschlag. Zum Wein etwas Essbares zu servieren, macht in kaum einem anderen Land mehr Sinn. Ess- und Trinkkultur gehen in Italien Hand in Hand wie Fernsehen und schöne Frauen. Die salzigen Chips und Foccaccia machen Barolo und Barbaresco weniger bitter, während Salsiccia und Käse die angriffslustigen Tannine besänftigen.

Bild: "Bar EntRedBullisiert - unsere Engergy Drinks heißen Barbera, Dolcetto, Pelaverga" © Sarah Krobath
Bild: Getränkekarte der Bar Boglione „Bar EntRedBullisiert – unsere Engergy Drinks heißen Barbera, Dolcetto, Pelaverga“ © Sarah Krobath

Bevor die österreichischen Gastronomen zum Wein gratis etwas Essbares servieren, schenken sie einem lieber ein Glas Leitungswasser ein, das sich womöglich später auf der Rechnung niederschlägt. Dabei geht das italienische Aperitivo-Konzept auch für die Gastronomie auf. Die macht das meiste Geschäft ohnehin mit den Getränken. Und davon gehen mehr über den Tresen, wenn die Gäste, statt nach einem Glas zum Abendessen ins Restaurant zu übersiedeln, den ganzen Abend in der Bar verweilen und einen Drink zum Standardpreis von vier Euro nach dem anderen ordern. „Ja bin ich denn die Wohlfahrt?“ höre ich schon den gutbürgerlichen Wirtshausbesitzer zetern, der den Kornspitz zum Salat am liebsten extra verrechnen würde wie die Eiswaffeln zum Bananensplit. Tatsächlich habe ich des Öfteren mehrköpfige italienische Familien dabei beobachtet, wie sie sich eine Flasche Cola geteilt und dazu ein vollwertiges Mahl serviert bekommen haben – dasselbe wie die Yuppie-Runde mit den zwei immervollen Sektkühlern am Tisch. Regelmäßig mit seinen Liebsten Primi, Secondi und Dolci im Restaurant zu bestellen, kann sich der Großteil der italienischen Bevölkerung nicht leisten, weshalb dem Aperitivo auch eine ernstzunehmende soziale Funktion zukommt. Wie eine fürsorgliche Mamma tauscht der Service mit der Aufmerksamkeit von Croupiers jeden leeren Teller gegen einen übervollen nach Hefeteig, reifen Tomaten und geschmolzenem Käse duftenden aus, offenbar auf Endlosschleife. Um 23 Uhr sind die Bars, die Bäuche der Gäste und die Kassen der Gastronomen gefüllt und die Studenten, Arbeitskollegen, Familien und Junggesellen machen sich auf den Heimweg. Und das Abendessen? Das ist gecancelt.

No Comments

  • Ich finde diesen Bericht genial. Das beschreibt total das Italienische Essverhalten. Ich war mal für einen Monat in Rom und da war es genau so 🙂
    Mi amo la dolce vita 🙂

  • Anch’io! 🙂 Wenn man sich erst mal daran gewöhnt hat, fühlt man sich von den Erdnüssen, die man hierzulande – wenn überhaupt – mit einem Drink serviert bekommt, richtig vernachlässigt… Ein Grund mehr öfter einmal einen Ausflug in den Süden zu machen. Lieber Gruß, Sarah

  • Das stimmt, man muss ja schon froh sein, wenn man bei einem Glas Rotwein das Leitungswasser nicht mitzahlen muss 🙂
    Ich darf beruflich öfters nach Italien fahren und ich muss sagen, dass sind mir unsere liebsten Lieferanten, da gibts immer etwas ordentlich(es) zu Essen 🙂

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